Die Filiale ist tot – es lebe die Filiale

(Dieser Artikel erschien zuerst in der GI Geldinstitute 4/2022)

Über die letzten Jahre haben die Kreditinstitute in Deutschland massiv ihre Filialnetze optimiert: Entweder wurde in die Attraktivität der Standorte investiert, Filialen zu Standorten von SB-Technik umgewidmet oder die Dependance komplett geschlossen. Sind Filialen folglich ein Auslaufmodell oder auch zukünftig ein bedeutender Vertriebskanal?

Schaut man sich die Anzahl der Bankstellen in Deutschland an, so ist ein klarer Trend zur signifikanten Reduzierung der Filialen erkennbar: Während im Jahr 2010 noch knapp 41.000 Filialen in Deutschland existierten, so waren es im Jahr 2020 nur noch ca. 25.000 (Deutsche Bundesbank 2020). Dieser Trend hat sich auch in den Jahren 2021 und im 1. Halbjahr 2022 fortgesetzt. Während sich im Jahr 2018 nur 36 Prozent der Kunden vorstellen konnten, zu einer Bank zu wechseln, die kein eigenes Filialnetz unterhält, so waren es im Jahr 2021 bereits 62 Prozent (Bitkom 2021).

Hinzu kommt, dass die Kundenfrequenzen in den Filialen sich signifikant zugunsten des Online-Bankings oder der Smartphone-App verlagert haben. Auch zahlreiche strategische Herausforderungen wie zum Beispiel die steigende Inflation oder die Abschreibungen durch sich verändern- de Kapitalmärkte wirken sich negativ auf das Geschäftsmodell von Banken und Sparkassen aus. Hieraus resul- tiert eine hohe Kostendisziplin, die ebenso auf das bestehende Filialnetz wirkt. Diese Auswirkungen machen die Filialen zwar noch nicht zum Auslaufmodell, lösen jedoch die Zukunfts- frage aus.

Die Frage, wie es mit den Filialen nun in einer VUCA-Welt weitergeht, impliziert in Teilen noch eine nicht mehr zeitgemäße Unterscheidung zwischen einer im virtuellen Raum stattfindenden digitalen Welt und einer Präsenzwelt, die in Filialen abgebildet wird. Diese Art der Unterscheidung wird nur noch von wenigen Kundengruppen gemacht. Die Filiale ist nicht mehr der einzige mögliche Vertriebskanal, sondern einer von vielen möglichen von den Kunden genutzten Wegen, um mit dem Finanzdienstleister in Kontakt zu treten.

Bisher existieren keine Studien, die aufzeigen, wie viele der heutigen Filialbesuche wirklich aus einem Kundenbedürfnis nach einer persönlichen Beratung in einer Filiale ausgelöst wurden und welche Filialbesuche nur deshalb stattfinden, weil die Banken und Sparkassen noch keine entsprechenden digitalen Lösungen für das spezifische Kundenproblem anbieten. An dem Aspekt der Unterscheidung zwischen „Ich muss in die Filiale“ und „Ich will die Filiale besuchen“ lässt sich erkennen, dass die Diskussion über die Zukunft der Filialen nicht losgelöst von der gesamten Prozesswelt eines Instituts geführt werden kann. Heutige Prozesse und Steuerungssysteme lösen manche Filialbesuche aus, die somit vom Kreditinstitut erzwungen werden, aus Kundensicht jedoch auch auf anderen Wegen erfolgen könnten beziehungsweise als Schritte vollkommen obsolet sind. Auch wenn sich der vorliegende Artikel auf die Filiale konzentriert, ist es strategisch entscheidend, die Filiale als integrativen Bestandteil im Omnikanal-Ansatz zu verstehen, nicht als separaten Vertriebskanal.

Ein Blick in das Bankerlebnis im Jahr 2025

Die umfangreiche Nutzung automatisierter Prozesse führt dazu, dass Kunden ihre Anliegen in 95 Prozent der Fälle selbst erledigen können. Hierzu stehen neben der App, die den Hauptzugangsweg zum Institut darstellt, Ansprechpartner via Chat, Telefon, Videoberatung und persönlich vor Ort zur Verfügung. Der für den Kunden aufwendigste Zugangsweg ist dabei der persönliche Besuch vor Ort. Deshalb hat sich das Institut durch die Definition von Customer­Journeys je Kundentyp explizit damit beschäftigt, wie dieser Besuch in einer Filiale zu einem begeisternden Erlebnis werden kann. Dies merkt man bereits an der guten zentralen Lage, um eine unkomplizierte Erreichbarkeit zu gewährleisten, dem ansprechenden äußeren Erscheinungsbild und den kompetenten Mitarbeitenden, die die Kundinnen und Kunden herzlich willkommen heißen. Sämtliche Fachexperten sind in den Filialen entweder persönlich ansprechbar oder können unkompliziert und schnell virtuell hinzugezogen werden. Den Mitarbeitenden ist vollkommen bewusst, dass der Besuch einer Filiale sich für Kunden nur rentiert, wenn ein Mehrwert der persönlichen Beratung erkennbar ist, da der Besuch an sich aus Prozesssicht nicht notwendig ist. Auch an hybride Kunden wurde gedacht – so gibt es keine Unterscheidung in den Prozesswelten und so können Kunden jederzeit den Vertriebskanal wechseln, ohne dass da- durch Informationen erneut erfasst werden müssen. Mitarbeitende sind die Finanzlotsen innerhalb des Omnikanal-Vertriebs des Instituts und agie- ren als Begleiterinnen und Begleiter der Kunden.

Frühere Friktionen in der Prozess- und Steuerungswelt, die vor allem durch Vertriebszielsysteme ausgelöst worden waren, wurden überwunden und gehören der Vergangenheit an. Die Anzahl der Filialen hat sich abermals deutlich reduziert, die verbleibenden Filialen vereinen jedoch die komplette Bandbreite an notwendiger Fachexpertise für alle Kundengruppen und sind alle gleichermaßen nutzbar. Für die Kundinnen und Kunden macht es keinen Unterschied, ob sie ihr Anliegen telefonisch, virtuell, via E-Mail oder persönlich vor Ort erledigen. Das Institut bietet all diese Wege gleichberechtigt und miteinander verzahnt an.

Zukunftsbild der Filiale

Ausgehend von diesem Zukunftsbild der Filiale als integrativer Bestandteil des Omnikanals lassen sich folgende Thesen ableiten:

  1. Die Filiale wandelt sich vom eigenständigen Vertriebskanal zu einem Kanal innerhalb des Omnikanal-Ansatzes des Kreditinstituts. Ihr künftiger Fokus liegt vor allem auf Concierge- und Beratungstätigkeiten.
  2. Die Weiterentwicklung des Filialnetzes geht mit einer Weiterentwicklung der gesamten Aufbau- und Ablauforganisation einher. Filialbesuch als Möglichkeit, nicht als Zwang mangels digitaler Self-Service-Alternativen.
  3. Filialen bleiben Orte der Begegnung; dies setzt ein Kundenerlebnis voraus, das begeistert – was wiederum einen radikalen Shift in Ambiente und Leistungsangebot erfordert.

Ein Ort für Concierge- und Beratungstätigkeiten

Viele Institute sehen die Filiale heute noch als einen separaten Vertriebsweg (Multikanal-Ansatz), in der Zukunft müssen Filialen hingegen ein Teil des Omnikanal-Erlebnisses sein.

Früher hatte die Filiale zwei Kernaufgaben beziehungsweise -angebote: Serviceleistungen und Beratungsleistungen. Künftig werden vor allem die Beratungsleistungen in der Filiale überwiegen. Vollkommen aus dem Filialangebot gestrichen werden die Serviceleistungen nicht, jedoch deutlich reduziert. Besucht ein Kunde eine Filiale, so erwartet er das volle Leistungsspektrum aus Beratung und Service. Der Besuch kann dabei sowohl persönlich als auch virtuell erfolgen. Noch vorhandene Kleinstfilialen werden daher künftig reine SB-Standorte und die mittleren Filialgrößen verschwinden in den nächsten Jahren komplett.

Es verbleiben somit hauptsächlich zwei Filialtypen: zum einen gut erreichbare Beratungscenter mit Expertise für Privat- und Firmenkunden sowie Experten für Finanzierungen & Vermögensanlage, zum anderen Standorte von SB-Technik, ggf. mit einer Möglichkeit zur Videointeraktion mit einem zentralen Callcenter. Als Übergang können auch kombinierte Filialmodelle, also der gemeinsame Betrieb von Filialstandorten durch unterschiedliche Institutsgruppen, betriebswirtschaftliche Synergien bieten, auch wenn sie das spezifische Markenerlebnis verwässern. Innerhalb der Beratungscenter können Kundinnen und Kunden auf die gesamte Leistungspalette des Kreditinstituts zugreifen und bei Bedarf werden weitere Experten via Videoberatung aus der Zentrale hinzugezogen. Der persönliche Besuch einer Filiale ist nicht notwendig, aber möglich. Damit dies reibungslos funktioniert, braucht es ebenso eine veränderte Prozesswelt.

Weiterentwicklung des Filialsystems

Ein Omnikanal-Erlebnis setzt voraus, dass sämtliche Informationen zu jeder Zeit auf allen Kanälen zur Verfügung stehen und dadurch jederzeit ein Kanalwechsel erfolgen kann. Was in der Theorie einfach klingt, bedeutet für die meisten Kreditinstitute ein radikal anderes Prozessmodell als heute. Häufig beginnt die Customer-­Journey bei der Recherche im Internet zu Hause; vielleicht wird der Wunsch nach einer Immobilie mit einem Beispielrechner validiert und schon hier werden Daten gewonnen. Diese bereits erhobenen Daten müssen ebenso bei einem anschließenden spontanen Besuch in einer Filiale für die Mitarbeitenden nutzbar sein.

Nur so können diese die Lotsenfunktion der Finanzen übernehmen. Gleichzeitig müssen die Kunden, wenn sie wieder zu Hause sind, auf die gleichen Datensätze zugreifen können, um sich die Beratungsvorschläge in Ruhe anzuschauen. Ein kurzer Abgleich der Gedanken durch einen Video-Call festigt dann letztlich die Entscheidung. Heutige Prozesswelten können Journeys dieser Art und somit die Lebensrealität der Kunden nur teilweise abbilden: Eine Kundin beispielsweise recherchiert im Internet, ruft im Callcenter an und besucht spontan in ihrer Mittagspause eine Filiale – meist sind die Datenpunkte nicht miteinander verknüpft und somit auch nicht nutzbar. Im schlimmsten Fall darf diese Kundin ihr Anliegen also heute dreimal erneut schildern und alle Informationen werden doppelt erfragt.

Möchte die Finanzindustrie auch zukünftig noch eine relevante Rolle aus Sicht der Kunden spielen, muss dieses Vorgehen der Vergangenheit angehören. Dies bedeutet ebenso eine Veränderung in den Steuerungssystemen. Banken und Sparkassen denken aktuell sehr stark im Hauptbetreuermodell. Jeder Kunde und jede Kundin hat einen festen Ansprechpartner, der meist noch in einer Filiale sitzt. Controlling- und Anreizsysteme bauen auf diese Logik auf und führen häufig dazu, dass der für die Kunden theoretisch zur Verfügung stehende Vertriebswege-Mix praktisch nicht nutzbar ist, da sie immer wieder an ihre Hauptbetreuerin oder ihren Hauptbetreuer verwiesen werden.

Künftige Vertriebssysteme hingegen folgen dem Grundsatz: Die Kunden entscheiden über den Kontaktweg und ihnen stehen dabei alle Kontakt- wege gleichermaßen zur Verfügung. Wichtig ist dann auch: Falls sie sich dabei zu einem persönlichen Aufsuchen der Filiale entscheiden, dürfen sie dort nicht das Gefühl bekommen, eine Zeitreise in die Vergangenheit unternommen zu haben.

Filiale als begeisternder Ort der Begegnung

Menschen sind als soziale Wesen in Resonanz miteinander. Im Gegensatz zur Betreuung bei Direktbanken hegt das Unterhalten von Filialen die Chance, zum einen Orte der Begegnung zu schaffen, zum anderen den Filialbesuch zum Markenerlebnis zu machen. Als Seitenvermerk sei hier nur auf andere Unternehmen verwiesen: Apple oder Nespresso beispielsweise setzen ganz bewusst auf den Unterhalt von Filialen, meist in Top- Lagen, mit markengerechtem, ansprechendem Ambiente und Menschen, die Freude an der Begegnung ausstrahlen. Gleiches gilt für den Besuch einer Bankfiliale.

Kunden erwarten neben freundlichen Mitarbeitenden, die das Anliegen sofort und ohne einen notwendigen erneuten Filialbesuch klären können, ein zeitgemäßes Ambiente. Hier entsteht weiterer Investitionsbedarf für die Institute, da die verbliebenen Filialen ausnahmslos über ein solches Ambiente verfügen müssen.

So hat zum Beispiel die Hamburger Sparkasse bereits im Jahr 2017 damit begonnen, 30 Millionen Euro in die zeitgemäße Entwicklung der Filialen hin zum Stadtteiltreffpunkt zu investieren (Hamburger Abendblatt 2017). Neben der baulichen Gestaltung ist hiermit auch die technische Ausstattung gemeint. Die Möglichkeit zur Videoberatung an allen Beratungsplätzen ist weniger die Zukunft als absolute Bedingung der Gegenwart, aktuell jedoch in vielen Instituten noch nicht die Realität.

Die Ausführungen zeigen: Filialen haben Zukunft. Gleichzeitig ist ein radikaler Wandel des gesamten Ver- triebssystems (inkl. der Ablauforganisation) von Filialbanken notwen- dig. Die Filiale der Zukunft hat nur noch wenige Gemeinsamkeiten mit den Filialen von heute. Eines haben jedoch auch die Filialen der Zukunft mit den heutigen gemein: Menschen, die Freude am Thema Finanzen haben und diese Leidenschaft durch exzellente Dienstleistung ausdrücken.

Literatur:

Bitkom (2021): Digital Finance 2021 – Die Transfor- mation der Finanzindustrie in Zahlen

Deutsche Bundesbank (2020): Bankstellenbericht 2020

Hamburger Abendblatt (2017): So sehen bald alle HASPA-Filialen aus

Weimann, J. (2021): Zukunft kompakt. Grünwald: JürgenWeimann.Consulting

Über den Autor: Prof. Dr. Jürgen Weimann

Dr. Jürgen Weimann ist einer der führenden Managementberater für Zukunftsfähigkeit durch wirkungsvolle Führung und kompromisslose Kundenzentrierung mit Schwerpunkt im Sparkassen Consulting & Bank Beratung.

KONTAKT ZU PROF. DR. JÜRGEN WEIMANN

    Ich stimme zu, dass meine Angaben aus dem Kontaktformular zur Beantwortung meiner Anfrage erhoben und verarbeitet werden. Die Daten werden nach abgeschlossener Bearbeitung Ihrer Anfrage gelöscht. Hinweis: Sie können Ihre Einwilligung jederzeit für die Zukunft per E-Mail an jw @juergenweimann.com widerrufen